Act against Aids

Generationenwechsel - ein langwieriger Prozess

«Ich finde es schwierig, etwas, das ich gerne gemacht habe, loszulassen und die Verantwortung jemand anderem zu übergeben.» Ruedi Lüthy spricht zusammen mit seiner Tochter Sabine über den Generationenwechsel. Im Interview mit dem Magazin 50plus zeigen die beiden Chancen und Herausforderungen auf, die ein solcher Prozess mit sich bringt.

Interview: «Ein Generationenwechsel findet über eine lange Zeit statt» (PDF)

«Ein Generationenwechsel findet über eine lange Zeit statt»

Loslassen fällt dem Zürcher Arzt Ruedi Lüthy schwer. Als Pionier in der Bekämpfung von HIV und Aids ist er unter anderem Mitgründer des Zürcher Lighthouse und hat mit der Ruedi Lüthy Foundation die Newlands Clinic in Simbabwe aufgebaut. Auch mit knapp 80 Jahren ist er noch aktiv. Allerdings im Hintergrund. Vor rund zehn Jahren hat der Arzt die Leitung der Stiftung seiner Tochter übergeben. Wie gelingt ein Generationenwechsel? Wir haben bei Vater und Tochter nachgefragt.

Interview von Benedikt Lachenmeier

Herr Lüthy, wie haben Sie als Arzt die Anfänge der Aids-Epidemie in den frühen 1980er-Jahren erlebt?
Ruedi Lüthy: Die Anfänge sind in meiner Erinnerung ziemlich trist. Ich musste als Arzt mitansehen, wie Menschen innerhalb kurzer Zeit starben – ohne dass wir etwas für sie tun konnten. Das war 1982. Es führte dazu, dass ich fast depressiv wurde, weil wir keinen einzigen Patienten retten konnten. Erst 1985 konnten wir eine anständige Diagnose stellen. 1991 gründete ich dann mit einem Freund das Sterbehospiz Lighthouse in Zürich, wo wir unheilbaren Aidskranken einen würdigen Abschied ermöglichen wollten.

Frau Lüthy, wie bekamen Sie damals als Teenagerin die Arbeit Ihres Vaters mit?
Sabine Lüthy: Mein Vater sprach zuhause viel über seine Arbeit. Wir haben sehr wohl miterlebt, wie die Situation ihn oft niederwarf. Als Arzt will man ja nichts anderes, als Menschen wieder gesund machen oder dafür sorgen, dass es ihnen besser geht. Es war schmerzhaft zu sehen, wie er fast verzweifelte. Sie selbst haben später im Lighthouse mitgeholfen.

Wie prägend war diese Zeit für Sie?
SL: Anfangs der 1990er habe ich mehrere Jahre in der Abteilung für Infektiologie am Unispital Zürich als Schwesternhilfe gearbeitet. Danach bekam ich auch bei meiner Arbeit im Lighthouse erschütternde Geschichten mit. Unter den Patienten waren manchmal Leute, die nur wenig älter waren als ich. Das hat mich sehr geprägt. Später sind Sie zum Radio und nicht in die AIDS-Hilfe.


Warum?
SL: Ich schreibe sehr gerne, bin sehr neugierig und habe ein grosses Gerechtigkeitsempfinden. Das führte dazu, dass ich mit Leib und Seele in den Journalismus ging. Was mein Vater leistete, war sehr positiv, aber seine Arbeit hatte auch Schattenseiten. Für viel anderes als die Medizin hatte er weder Kraft noch Zeit. Das ist eine unglaubliche Herausforderung. Eine Zeit lang wäre ich allerdings gerne in den medizinischen Beruf eingestiegen, aber an Physik und Chemie wäre ich so sehr gescheitert, dass ich wohl nicht mal das erste Jahr geschafft hätte.

Herr Lüthy, mit 62 haben Sie sich aus dem Berufsalltag in der Schweiz als Arzt, Professor und Klinikleiter zurückgezogen und die Newlands Clinic in Harare, Simbabwe, gegründet. Wie kam es dazu?
RL: Um die Jahrtausendwende war die HIV-Epidemie in Europa und den USA eigentlich unter Kontrolle. Gleichzeitig wütete im südlichen Afrika die Epidemie in einer Art und Weise, dass es kaum eine Familie gab, in der nicht irgendjemand gestorben wäre. Prävention, wie wir sie in der Schweiz seit 1987 praktizierten, fand dort nicht statt. Das war dann der Grund, warum ich entschied, in einer ambulanten Klinik in Simbabwe Patienten zu behandeln und vor Ort Leute auszubilden. Das war im Jahr 2003. Und ziemlich genau in diesem Jahr standen in Simbabwe das erste Mal Generika zur Verfügung. So war es möglich, auch dort mit Therapien zu beginnen.

Wie stark ist die Sterblichkeit dank Ihrem Engagement in Simbabwe zurückgegangen?
RL: Bei uns in der Klinik liegt die Sterblichkeit inzwischen etwa bei drei Prozent. Im Land selbst ist sie höher, aber man hat keine verlässlichen Zahlen.

Frau Lüthy, inzwischen leiten Sie die Ruedi Lüthy Foundation. Was hat Sie doch noch dazu bewogen, im Kampf gegen Aids aktiv zu werden?
SL: Mein Vater fragte mich mehrmals, ob ich bei der Stiftung mithelfen könnte. Ich habe immer abgelehnt, weil ich ja leidenschaftliche Journalistin war. Und dann war da dieser Traum. Ich träumte, dass mein Vater auf dem Sterbebett liegt. Er machte sich Sorgen um die Zukunft der Klinik. Ich nahm seine Hand und sagte: Keine Angst, ich schaue, dass es gut kommt. Von da an war es keine Diskussion mehr. Ich entschied mich für die Stiftung. Es war auch die Zeit, als ich bemerkte: Er wird ja nicht jünger. Ich fragte mich, was passieren wird, wenn er nicht mehr da ist. Ich bin zwar keine Ärztin und kann seine Arbeit nicht ersetzen. Das Einzige, was ich machen kann, ist dieses ganze Schiff in seinem Sinn in eine ähnliche Richtung zu steuern. Es war ein Verantwortungsgefühl, eine moralische Verpflichtung, die mich dazu bewogen hat, das zu machen.


Wie haben Sie den Generationenwechsel geschafft?
SL: Ich weiss nicht, ob wir den Generationenwechsel geschafft haben.

RL: Ich wollte gerade das Gleiche sagen. Man entscheidet nicht einfach und dann ist es so. Ein Generationenwechsel findet über eine lange Zeit statt. Und bei mir dauert es wahrscheinlich länger als bei anderen. Ich finde es schwierig, etwas, das ich gerne gemacht habe, loszulassen und die Verantwortung jemand anderem zu übergeben. Unabhängig davon, wer weitermacht. Ich bin aber sehr dankbar, dass Sabine die Verantwortung übernommen hat. Hinzu kommt, dass sich mit einer neuen Generation Dinge ändern. Es sind neue Ideen, andere Temperamente vorhanden. Und wenn man von aussen zuschaut, ist es manchmal schwierig, das zu akzeptieren. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich lerne, zurückzustehen und mich nicht allzu sehr einzumischen.

SL: Ich musste damals einen ganzen Haufen lernen. Ich hatte eine andere Ausbildung und arbeitete beim Radio. Ich lernte völlig andere Dinge. Ich wuchs da rein. Von Anfang an hatte ich super Hilfe und war nie allein. Wir haben in Simbabwe wie auch in der Schweiz hoch professionelle Teams, in denen jeder in seinem Fachgebiet besser ist als ich. Ich bin nur diejenige, die es zusammenführen und leiten muss. Meine Aufgabe ist das Managen und nicht das Machen.

Was macht Ihre Tochter als Leiterin der Stiftung besser als Sie, Herr Lüthy?
RL: Sie ist viel organisierter als ich und überlegt sich bei jedem Schritt: Was hat das für Konsequenzen? Wie sieht es aus in fünf Jahren? Sie wäre sicher nie in der gleichen Art an dieses Projekt herangegangen wie ich. Ich machte nie lang Pläne, sondern ging einfach nach Simbabwe und sagte: Wir haben zwar kein grosses Budget, aber ich suche ein Gebäude für meine Klinik. Ich bin überzeugt, wenn du, Sabine, das gemacht hättest, hättest du zuerst einen Haufen Konsequenzen überlegt und welche Ressourcen es braucht.

SL: Dann hätte es aber nie stattgefunden. Das ist der Unterschied. Du bist der Macher und ich bin mehr die Strategin. Für so ein Projekt braucht es ein grosses Stück Naivität und Mut – und den Pioniergeist. Das ist deine Leistung.

RL: Ja, aber ich war nicht allein. Ich hatte einen enormen Rückhalt. Das Team, das ich vor Ort aufbaute, wuchs ähnlich wie meine Ideen, die mich überhaupt dorthin führten.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit heute? Wer von Ihnen hat welche Aufgaben?
SL: Corona bedingt ist die Zusammenarbeit ein wenig runtergefahren. Wenn es normal läuft, tauschen wir uns regelmässig aus. Mein Vater ist nicht mehr so stark operativ tätig heute. Die ärztliche Leitung hat er 2017 an Dr. Stefan Zimmerli abgegeben, der als Infektiologe am Berner Inselspital tätig ist. Es sind beispielsweise Kontakte zu Gönnerinnen und Gönnern, die wir zusammen betreuen. Wir arbeiten mehr auf einer strategischen Ebene zusammen.

Herr Lüthy, wie profitieren Sie davon, dass Sie Vater und Tochter sind?
RL: Einerseits kenne ich diese Frau bereits seit gut 50 Jahren. Das erlaubt Rückschlüsse, die nicht unbedingt ausgesprochen werden müssen. Es besteht eine Vertrautheit zwischen uns, die man mit Angestellten nicht erreicht. Dadurch, dass wir familiär verbunden sind, gibt es natürlich auch Streitereien. Im Lauf eines Lebens muss man miteinander streiten, um Dinge zu klären. Der Vorteil ist, dass wir aus langer Erfahrung wissen, dass diese Streitereien ein Ende haben und man danach wieder aufeinander zugeht.

Es arbeiteten ja noch weitere Familienmitglieder bei der Stiftung mit.
RL: Meine Frau war von Anfang an dabei und half bei der Herstellung von Kinderkapseln mit. Denn am Anfang gab es noch keine Medikamente für Kinder. Und mein Sohn Philipp baute in der Klinik in Simbabwe die EDV auf. Die Idee war, Krankheitsgeschichten elektronisch zu führen und zu speichern.

Inwiefern ist die Arbeit rund um die Stiftung auch privat ein Thema?
SL: Wir sind besser geworden. Meine Mutter arbeitet schon lange nicht mehr mit. Philipp ist auch seit einigen Jahren nicht mehr dabei. Das hat sicher mehr Distanz gebracht in der Familie. Als mein Vater noch medizinischer Leiter in Simbabwe war, haben wir uns jeden Tag ausgetauscht. Auch an Weihnachten besprachen wir Geschäftliches. Das war bestimmt für die Gesamtfamilie oftmals eine rechte Zumutung. Inzwischen nehmen wir uns ziemlich zurück.

Herr Lüthy, Sie sind bald 80. Die Leitung der Stiftung haben Sie übergeben. Wie lange machen Sie persönlich noch weiter?
RL: Wenn man weiss, dass man bald 80 wird, beschäftigt das einen schon. Es ist auch eine Diskussion, die ich mit Sabine in letzter Zeit sehr oft führe. Ich gehe nächstes Jahr wahrscheinlich noch ein bis zwei Mal nach Simbabwe, wie es dann weitergeht, wird sich zeigen. Ich bin vergesslicher geworden. Das Alter merkt man einfach anders, als wenn man 60 ist. Deshalb bereite ich mich vor allem emotional darauf vor. Wenn ich zurückschaue, ist die Newlands Clinic das, was mich in meiner beruflichen Arbeit am meisten begeisterte. Das Steuer abzugeben und das Schiff unter neuer Leitung weitersegeln zu lassen, ist für mich ein schwieriger Prozess.

Frau Lüthy, wie planen Sie die Zukunft mit dem Gefühl, dass Ihr Vater irgendwann im Kampf gegen Aids einmal nicht mehr an Ihrer Seite ist?
SL: Es gibt mehrere Ebenen. Die wichtigste ist eine sachliche, wo es um die Zukunft der Klinik geht. Da sind wir professionell unterwegs und gut aufgestellt. Was wirklich sehr anspruchsvoll und auch schmerzhaft ist, ist der persönliche, emotionale Anteil. Wir sind Vater-Tochter. Ich bin von klein auf der grösste Fan von ihm. Teil dieser Ablösung zu sein und mitzuerleben, wie weh ihm das tut, ist sehr schwierig. Mir kann niemand sagen, wie wir das lösen können. Es gibt kein Rezept. Es ist eine sehr anspruchsvolle Zeit, die wir durchmachen müssen. Er ist eine Vaterfigur. Nicht nur für mich, sondern auch für das Team vor Ort. Sie verehren und lieben ihn über alles. Umso wichtiger ist es, dass ich mit meinem Engagement sein Lebenswerk erhalte und in die Zukunft führen kann. Das sind wir den rund 7000 Patientinnen und Patienten schuldig, die auf unsere lebenslange Hilfe angewiesen sind.